«Fühlen Sie sich in der Lage, für Ihre Angehörigen über eine Organspende zu entscheiden?»

Ein medizinischer Notfall – eine Frau stirbt unerwartet. Ihre Familie trifft sich am Spitalbett und muss im Schockzustand entscheiden, ob eine Organspende gewollt oder ungewollt ist. Intensivmediziner Dr. Mathias Nebiker begleitet den Prozess.*

Die Frau mit den graumelierten Haaren scheint zu schlafen. Ihr Brustkorb hebt und senkt sich. Einatmen – ausatmen, immer und immer wieder, genau im Takt. Mit einem Schlauch, durch die Luftröhre pumpt ihr die Beatmungsmaschine in regelmässigen Stössen Luft in ihre Lungen, versorgt ihr Blut mit Sauerstoff und lässt so ihr Herz schlagen. Die Patientin hat eine rosige Gesichtsfarbe, würde man sie berühren, würde sie sich warm anfühlen. Und dennoch, die Frau, die hier auf der Intensivstation des Inselspitals Bern liegt, lebt nicht mehr. Gerade eben wurde sie von Intensivmediziner Mathias Nebiker und einem Neurologen für tot erklärt.

Noch Stunden zuvor stand die 65-Jährige mitten im Leben. Wie immer am Mittwoch war sie beim Morgenturnen, hatte anschliessend im Gemüsegarten gejätet, und wollte dann das Mittagessen richten, als sie, wie aus dem Nichts am Kochherd stehend, ein einschiessender Kopfschmerz durchzuckte. Sie krümmte sich, versuchte sich an der Wand festzuhalten, ehe sie stöhnend zusammenbrach.

Beim Eintreffen der vom anwesenden Mann alarmierten Rettungssanitäter war die Frau ohne Bewusstsein. Verdacht auf Hirnschlag oder Hirnblutung. Noch vor Ort wurde sie intubiert, danach mit Blaulicht in die Universitätsklinik Inselspital Bern eingeliefert. Im Schockraum standen die Notfallmediziner schon bereit. Die weiten, lichtstarren Pupillen der Patientin deuteten bei der Untersuchung darauf, dass auf den Hirnstamm extremer Druck ausgeübt wurde. Eine eilends angeordnete Computertomografie bestätigte die Vermutung. Enorm viel Blut war ins Gewebe geflossen, liess das Hirn anschwellen. Die Patientin hatte eine schwere Gehirnblutung erlitten, keine Chance auf Rettung zurück in das gewohnte Leben. In absehbarer Zeit würde sie hirntot sein. Die sofort herbeigezogenen Neurochirurgen können keine sinnvolle Operation mehr anbieten.

300 bis 350 Patientinnen und Patienten sterben jährlich auf der Intensivstation des Inselspitals Bern, ein Mensch fast jeden Tag. Jeder Vierte von ihnen kommt als potenzielle Organspenderin oder potenzieller Organspender infrage. Das kann nach einem Herz-Kreislauf-Stillstand oder nach einem Unfall sein. Am häufigsten aber nach einem Hirnschlag oder einer Hirnblutung wie in diesem Fall.

In der Glasbox – so wird der Besprechungsraum hinter Milchglasscheiben auf der Intensivstation genannt – nehmen Intensivmediziner Mathias Nebiker und eine Pflegefachfrau den eben eingetroffenen Mann und die drei erwachsenen Kinder der Patientin in Empfang. Auf dem Tisch stehen Mineralwasser und eine Packung Kleenex bereit.

In diesem nüchternen Umfeld gibt Nebiker den geschockten, wie versteinert wirkenden Angehörigen ruhig und sachlich den Bericht des Neurochirurgen über den Zustand ihrer Frau und Mutter weiter.

Er zeigt ihnen auf dem CT-Bild die grosse Blutung, erklärt, wie das geschwollene Gehirn gegen den Schädelknochen drückt und so die Durchblutung behindert. Was dagegen unternommen werden könne, will die Familie wissen. Ob gleich eine Operation anstehe, fragen sie. Obwohl der 46-jährige Internist und Intensivmediziner, der ausserdem Leiter Organspende Netzwerk Schweiz-Mitte* und Präsident des nationalen Ausschusses für Organspende ist, und sein Notfallteam solche Gespräche regelmässig in Fortbildungen mit Schauspielerinnen und Psychologen üben und durchschnittlich neunzig solche Besprechungen im Jahr führen müssen, kommt keine Routine auf.

Dr. Mathias Nebiker
«Es ist für mich immer wieder herausfordernd und lässt mich nicht kalt.»

«Gerade bei Patienten, die im ähnlichen Alter wie ich sind, oder bei vergleichbaren Familiensituationen, ist ein solches Gespräch auch immer eine Gratwanderung zwischen Anteilnahme und Abgrenzung. Und doch bemühe ich mich immer, den Fokus klar auf eine ehrliche, transparente, fachliche Aufklärung zu richten.» Der Familie der 65-jährigen Patientin muss Nebiker mitteilen, dass die Situation hoffnungslos ist, der Hirnschaden irreversibel, und dass es keine Möglichkeit eines sinnvollen Eingriffs gibt.

Konfrontiert mit diesen Informationen, bekommen die Angehörigen Zeit, die traurigen Tatsachen setzen zu lassen. Eben noch war ihr Leben in Ordnung, jetzt befinden sich in einem absoluten Ausnahmezustand. Um damit klar zu kommen, steht ein Care Team zur Verfügung. Und selbstverständlich dürfen die Angehörigen auch an das Bett ihres geliebten Menschen. «Für das Realisieren der Situation, für den Verarbeitungsprozess ist das enorm wichtig», sagt Nebiker. «Selbst während Corona haben wir in diesen Situationen immer Besuche auf der Intensivstation ermöglicht.» Auch die sehr gefasst reagierende Familie will so schnell wie möglich zu ihrer Frau und Mutter. Es wird vereinbart, dass man sich in einer knappen Stunde wieder treffen wird.

Unterdessen zieht sich Mathias Nebiker in sein Büro zurück und klärt beim Nationalen Organspenderegister ab, ob die Patientin einen Eintrag hat, was heisst, ob sie zu Lebzeiten schriftlich hinterlegt hat, ihre Organe nach dem Tod frei zu geben. Rund 130 000 Menschen sind in der Schweiz registriert, erst zweimal waren von Nebiker betreute Patienten eingeschrieben. Nebst der Zustimmung zur Organspende ist dann in einer mit einem Code verschlüsselten Mail auch eine persönliche Nachricht der potenziellen Spenderin oder des potenziellen Spenders an die Angehörigen hinterlegt. «Als ich diese Botschaften überbringen durfte, war das selbst für mich ein enorm berührender, emotionaler Moment», sagt der Arzt.

1'434 Menschen warteten Ende 2021 in der Schweiz auf ein Organ, bei 587 von ihnen konnten Transplantationen durchgeführt werden, 72 sind mangels eines geeigneten Organs bereits vor einer Transplantation verstorben.

Dr. Mathias Nebiker
«Organspende steht in der heutigen Gesellschaft in Verbindung mit dem Tod. Und der Tod ist bei uns ein Tabuthema, mit dem man sich nicht gerne auseinandersetzt.»

«Das widerspiegelt die magere Spendequote und erklärt, dass bei mehr als der Hälfte der Patientinnen und Patienten deren Wille gegenüber Organspende den Angehörigen nicht bekannt ist. Deshalb begrüsse ich die erweiterte Widerspruchslösung. Ich bin mir sicher, dass dann, egal ob pro oder contra Organspende, wenigstens in der Bevölkerung die Bereitschaft zunimmt, den eigenen Willen über Massnahmen am Lebensende oder über eine mögliche Organspende schriftlich zu hinterlegen.» Denn wie schwer es für Angehörige in einer Krisensituation ist, konfrontiert mit Angst, Schock und Trauer, in kurzer Zeit im Sinn des Patienten einen solchen Entscheid zu fällen, erfährt Nebiker immer wieder. Auch im Fall der 65-jährigen Frau liegt kein Eintrag im Organspenderegister und keine Organspende-Karte vor. Ob sie eine Patientenverfügung hat, und wie sie zur Organspende steht, wird der Arzt im anschliessenden zweiten Gespräch mit den Angehörigen versuchen herauszufinden.

Schock, Ratlosigkeit und Verzweiflung spiegeln sich in deren Gesichtern beim zweiten Treffen in der Glasbox. Warum soll für ihre Mutter keine Hoffnung mehr bestehen, fragt die Tochter die Ärzte resolut und verzweifelt zugleich. Sie sehe doch aus wie immer. Ruhig und sachlich legt ihr Nebiker die Meinung des Neurochirurgen dar, dass der Hirntod bald zu erwarten sei, das Gehirn bereits zu stark geschädigt ist und somit keine sinnvollen Operationsmöglichkeiten mehr bestehen. Das lasse sich am exponentiell steigenden Blutdruck entnehmen, der in absehbarer Zeit zusammenbrechen werde.

«Was dann?», will der Ehemann wissen. «Wird meine Frau weiterhin behandelt? Vielleicht wacht sie ja in ein paar Wochen wieder auf?» Mathias Nebiker muss ihm diesen Hoffnungsanker nehmen. «Lebensverlängernde Massnahmen bei Hirntoten werden in der Schweiz nur im Fall einer Schwangerschaft oder bei der Bereitschaft einer Organspende vorgenommen. Ansonsten wird auf eine palliative Therapie gewechselt und man nimmt die Patienten vom Beatmungsgerät.» Für Angehörige ist das Akzeptieren solcher Informationen eine enorme Herausforderung, die Hoffnung aufzugeben noch viel schwieriger. Nebiker erkundigt sich nach der Patientenverfügung. Der Familie ist keine bekannt. Ob sie sich schon mal über das Thema Organspende unterhalten haben, will er wissen. Behutsam führt der Intensivmediziner die Familie an die entscheidenden zwei Fragen:

Dr. Mathias Nebiker
«Was war wohl der mutmassliche Wille Ihrer Frau und Mutter gewesen, hätte sie ihre Organe zur Verfügung gestellt?»

Und dann direkt an die Familie gerichtet: «Fühlen Sie sich in der Lage für Ihre Frau und Mutter zu entscheiden?»

In sechzig Prozent der Fälle sprechen sich die Angehörigen gegen eine Spende aus. Wegen des Wartens, oder dem Aufwand bis die Organspende abgeschlossen ist, zum Beispiel. Oder auf Grund der Überzeugung, dass der Mensch nach dem Tod nicht angetastet werden darf, sein Körper unversehrt zu bleiben hat. Dass durch die Organentnahme der Sterbeprozess massiv gestört wird, und der die Spenderin oder der Spender um ein würdevolles Sterben gebracht wird, wird seltener argumentiert. Für Nebiker sind das alles berechtigte Bedenken: «Es ist unbestritten, dass nach einem diagnostizierten Hirntod nicht jede Körperzelle ihre Funktion verloren hat. Dennoch ist die Hirnfunktion unwiderruflich erloschen. Und nur ein durchblutetes Hirn macht einen Menschen aus, lässt ihn atmen und hält ihn am Leben. Hirntote Menschen hingegen müssen zwingend künstlich beatmet werden, ansonsten gelangt kein Sauerstoff mehr ins Blut, und nach kürzester Zeit hört ihr Herz auf zu schlagen. Deshalb ist es für mich legitim, hirntot mit tot gleichzusetzen.»

Beladen mit all diesen Informationen, Fakten und Fragen ziehen sich die Angehörigen der 65-Jährigen Patientin in den Familienrat zurück. Es wird ihnen so viel Zeit gewährt, wie sie brauchen, um eine Entscheidung zu treffen. Doch schon nach wenigen Minuten ist für die Familie klar, dass im Fall eines diagnostizierten Hirntods eine Organspende dem Sinn ihrer Frau und Mutter entspricht. Sie sei immer ein sehr hilfsbereiter Mensch gewesen. Sie geben die Einwilligung.

Ab jetzt läuft die Uhr. Tritt der Hirntod der Patientin nicht innerhalb der nächsten 48 Stunden ein, bedeutet das Therapierückzug: Die Beatmung wird beendet, man lässt die Frau sterben, so will es das Gesetz. «Das kommt bei uns ungefähr jedes sechste Mal vor», sagt Nebiker. «Natürlich ist das auch immer mit etwas Frust verbunden, gerade wenn die Patientin oder der Patient einen Spendeausweis hatte. Anderseits ist es auch gut, dass der zeitliche Rahmen begrenzt ist. Das Warten auf den Hirntod strapaziert die Angehörigen enorm. 48 Stunden, das sind zwei Tage und zwei Nächte. Die können endlos sein. Auch für das medizinische Team. Denn mit dem Organspendeprozess, der Blut- und Gewebeuntersuchungen, Herzultraschall, Computertomografie von Bauch und Lunge beinhaltet, darf erst nach dem bestätigten Hirntod begonnen werden.

Der Ablauf der Hirntoddiagnostik ist nach medizin-ethischen Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) klar geregelt. Zwei unabhängige Ärztinnen oder Ärzte, eine Intensivmedizinerin und ein Neurologe, die später weder an der Entnahme der Organe noch an der Transplantation mitwirken dürfen, müssen bei tiefkomatösen Patientinnen und Patienten anhand eines genau vorgegebenen Protokolls nachweisen, dass alle Hirnstammreflexe erloschen sind, keine Hirnfunktionen mehr da sind. Zudem muss ausgeschlossen sein, dass die Patientin oder der Patient unter Medikamenten wie Beruhigungsmitteln oder Opiaten stehen, die eine Diagnostik verfälschen können.

Auf dem Weg von der Glasbox zurück ins Büroerfährt Nebiker, dass der Hirntod eben eingetreten sei. «Die Patientin hat eingeklemmt», heisst das im Fachjargon, was bedeutet, dass es durch den Druck des Gehirns auf den Hirnstamm, wo sich das Atemzentrum befindet, zu einem Atemstillstand gekommen ist. Für Nebiker und seinen Kollegen steht jetzt die Hirntoddiagnostik an.

Am Bett der Patientin überprüfen sie als erstes ihr Dossier. Die Frau hat weder Schmerzmittel noch andere Medikamente im Blut und ist auch nicht unterkühlt. Mit einer Taschenlampe leuchten sie in ihre geweiteten Pupillen, keine Reaktion. Wird das Augenlid mit einem Wattetupfer berührt, schliesst es sich nicht. Kein Zucken bei Druck auf schmerzempfindliche Trigeminuspunkte am Kopf. Ein bis tief in den Rachen geführter Spatel sorgt nicht für Hustenreiz oder Schluckreflexe. Schliesslich folgt der Apnoetest. Die Ärzte trennen die Frau vom Beatmungsschlauch und beobachten, ob sie selber anfängt zu atmen. Aber auch hier keine Reaktion. Somit ist das Protokoll erfüllt. Sämtliche Hirnfunktonen sind irreversibel ausgefallen. Nebikers Blick geht auf die Uhr, notiert die Zeit und unterschreibt das Protokoll. Sein Kollege tut es ihm gleich. Ein Leben ist soeben zu Ende gegangen, die Patientin wird offiziell für tot erklärt.

Der Intensivmediziner übergibt den Fall nun an die Transplantationskoordination des Inselspitals Bern, die den Organentnahmeprozess in Gang setzt. Die Patientin wird immer noch beatmet, ihr Kreislauf stabilisiert und der Körper mit Hormonen versorgt, die er nicht mehr selber bildet. Weiterhin hebt und senkt sich ihr Brustkorb, einatmen – ausatmen, immer und immer wieder, genau im Takt.

Am Bett nehmen derweil die Angehörigen von der Toten Abschied. Später, nach der Organentnahme, haben sie zudem noch die Möglichkeit, den zurechtgemachten Leichnam im Aufbahrungsraum ein letztes Mal sehen können.

Dr. Mathias Nebiker
«Irgendwann später wird die Familie darüber informiert, wie viele und welche Organe gespendet werden konnten.»

Die Empfängerinnen und Empfänger dürfen sie nicht kennenlernen. Zum Schutz der Angehörigen vor Forderungen oder Abhängigkeiten besteht das Prinzip der Anonymität. Spenden und Empfangen passiert unentgeltlich, es ist ein Geschenk. Einzig anonyme Briefe dürfen via Transplantationskoordination ausgetauscht werden.

Nach einem ereignisreichen Tag geht nun auch Mathias Nebikers Schicht zu Ende. Dreizehn Stunden sind es heute geworden. Statistisch gesehen haben Intensivmediziner ein hohes Risiko, ein Burn-out zu erleiden. Davon will der gebürtige Solothurner nichts wissen. Sein Rennrad vor der Klinik helfe ihm, es nicht so weit kommen zu lassen, sagt er. Abschalten, den Tag verarbeiten und auftanken, danach lebt er. Denn schon am nächsten Tag wird der Arzt erneut medizinisch und menschlich gefordert sein.

* Dr. med. Mathias Nebiker gibt die fiktive Geschichte anhand eines Ablaufbeispiels wieder. Er leitete das «Organspende Netzwerk Schweiz-Mitte (CHM)» am Inselspital Bern und ist heute Chefarzt und Klinikleiter für Intensivmedizin am Kantonsspital Aarau (KSA).

Text: Eva Maschek
Illustration: Anja Schorneck